Die ganze Schule wartete gespannt auf das, was nun kommen würde.
«Theo Torfkopp!» bellte die Knüppelkuh plötzlich. «Wo steckt Theo Torfkopp?»
Mitten zwischen den Kindern fuhr eine Hand in die Höhe.
«Komm hier rauf!» schrie die Knüppelkuh, «und ein bißchen hopp hopp!»
Ein elfjähriger Junge, der ausgesprochen wohlgenährt war, stand auf und watschelte rasch nach vorn. Er kletterte auf die Bühne.
«Stell dich hierher!» befahl die Knüppelkuh und deutete mit dem Finger auf die Stelle. Der Junge stellte sich neben sie. Er wirkte nervös. Er wußte sehr wohl, daß er nicht hier heraufgerufen worden war, um einen Preis entgegenzunehmen. Er beobachtete die Schulleiterin mit wachsendem Mißtrauen und schuffelte mit kleinen Schritten immer weiter beiseite, so wie vielleicht eine Ratte vor einem Terrier zurückweicht, der sie von der anderen Seite des Zimmers aus beobachtet. Sein rundes Mopsgesicht war vor angstvoller Erwartung grau geworden. Seine Socken rutschten ihm über die Knöchel.
«Dieser Dummkopf», dröhnte die Rektorin und deutete mit dem Reitstock wie mit einem Degen auf ihn, «dieser widerliche Pickel, diese Pestbeule, diese Giftwarze, die ihr hier vor euch seht, ist nichts anderes als ein verachtenswerter Verbrecher, ein Bürger der Unterwelt, ein Mitglied der Mafia!»
«Wer, ich?» fragte Theo Torfkopp ehrlich verblüfft.
«Ein Dieb!» kreischte die Knüppelkuh. «Ein Hehler. Ein Seeräuber! Ein Straßenräuber! Ein Beutelschneider!»
«Also aber wirklich», sagte der Junge, «ich wollte sagen, das können Sie vergessen, Frau Rektorin.»
«Leugnest du etwa, du hinterlistiger kleiner Giftzwerg? Behauptest du, nicht schuldig zu sein?»
«Ich hab ja gar keine Ahnung, wovon Sie reden», sagte der Junge, der immer verwirrter wurde.
«Ich werd dir sagen, wovon ich rede, du ekelhafter kleiner Fettfleck!» schrie die Knüppelkuh. «Gestern vormittag bist du in der Pause wie eine Schlange in die Küche geschlichen und hast dir eine Scheibe von meinem privaten Schokoladenkuchen von meinem Teetablett gestohlen! Dieses Tablett war gerade ganz speziell für mich von der Köchin vorbereitet worden. Es war mein Vormittagsimbiß. Und was den Kuchen anbelangt, so stammte er aus meinen privaten Vorräten! Das war kein Kuchen für euch Knaben! Du bildest dir wohl keine Sekunde lang ein, daß ich den Fraß auch nur anrühre, den ich euch geben lasse? Dieser Kuchen war eine Torte, und der Teig enthielt echte Butter und wirkliche Sahne! Und er, dieser Bandit und Wegelagerer, dieser Safeknacker, dieser Räuber, der da drüben mit seinen Rutschestrümpfen steht, er hat die Torte gestohlen und verschlungen!»
«Hab ich nicht!» rief der Junge aus und wurde leichenblaß statt grau.
«Lüg mich nicht an, Torfkopp», bellte die Knüppelkuh, «die Köchin hat dich gesehen! Und nicht nur das, sie hat auch gesehen, wie du gekaut hast.»
Die Knüppelkuh hielt inne, um sich einen Flocken Schaum von den Lippen zu wischen.
Als sie abermals zu reden begann, klang ihre Stimme plötzlich milde und geschmeidig, und sie beugte sich mit einem Lächeln zu dem Knaben hinab. «Hat dir meine ganz spezielle Schokoladentorte gut geschmeckt, Torfkopp? Ist sie nicht köstlich? Schmeckt sie nicht lecker, Torfkopp?»
«Ja, sehr lecker», murmelte der Junge. Die Worte waren ihm entschlüpft, ehe er sich beherrschen konnte.
«Du hast recht», antwortete die Knüppelkuh, «sie ist überaus lecker. Deshalb bin ich der Ansicht, daß du der Köchin gratulieren solltest. Wenn ein Herr eine besonders gute Mahlzeit genossen hat, Torfkopp, dann läßt er dem Küchenchef immer seine Komplimente ausrichten. Das hast du nicht gewußt, nicht wahr, Torfkopp? Aber diejenigen, die sich in der Unterwelt der Verbrecher heimisch fühlen, zeichnen sich selten durch gute Manieren aus.»
Der Junge verharrte in Schweigen.
«Köchin!» rief die Knüppelkuh und wandte den Kopf zur Tür. «Herein mit Ihnen, Köchin! Torfkopp möchte Ihnen sagen, wie gut er Ihren Schokoladenkuchen findet.»
Die Köchin, eine große verschrumpelte Frau, die so aussah, als ob ihr schon vor langer Zeit der ganze Lebenssaft in einem heißen Backofen verdampft wäre, trat in einer schmutzigen weißen Schürze auf die Bühne.
Ihr Auftritt war ganz offensichtlich vorher von der Schulleiterin arrangiert worden.
«Also los, Torfkopp», dröhnte die Knüppelkuh, «sag der Köchin, was du von ihrem Schokoladenkuchen hältst.»
«Sehr gut», murmelte der Junge. Man konnte genau erkennen, wie er sich den Kopf zerbrach, auf was dieses alles hinauslief. Das einzige, was er genau wußte, war: das Gesetz verbot der Knüppelkuh, ihn mit der Reitgerte zu verprügeln, mit der sie sich ununterbrochen gegen die Schenkel schlug. Das war ein gewisser Trost, wenn auch ein schwacher, denn die Knüppelkuh war vollkommen unberechenbar. Man wußte nie, was sie als nächstes unternehmen würde.
«Na also, Köchin», rief die Knüppelkuh, «Torfkopp hat Ihre Torte geschmeckt. Er betet Ihre Torte an. Haben Sie nicht vielleicht noch ein bißchen Torte übrig, die Sie ihm geben könnten?»
«Das habe ich in der Tat», antwortete die Köchin. Sie schien diesen Satz auswendig gelernt zu haben.
«Dann holen Sie sie rasch. Und bringen Sie auch ein Messer mit, damit man sie anschneiden kann.»
Die Köchin verschwand. Doch fast im Handumdrehen war sie wieder da und wankte unter dem Gewicht einer gewaltigen runden Schokoladentorte auf einem Tortenteller aus Porzellan. Der Kuchen maß einen guten halben Meter im Durchmesser und war mit dunkelbrauner Schokoladenglasur überzogen. «Stellen Sie sie dort auf den Tisch», befahl die Knüppelkuh.
Auf der Bühne befand sich ein kleiner Tisch, hinter dem ein Stuhl stand. Die Köchin stellte die prachtvolle Torte vorsichtig auf dem Tisch ab.
«Setz dich, Torfkopp», sagte die Knüppelkuh, «setz dich hierher.»
Der Junge schob sich vorsichtig zum Tisch und setzte sich hin. Er starrte den riesenhaften Kuchen an.
«Da hast du’s nun, Torfkopp», sagte die Knüppelkuh, und ihre Stimme bekam abermals den sanften, überredenden, fast zärtlichen Ton. «Das ist alles für dich, bis zum letzten Bissen. Weil dir die eine Scheibe, die du gestern gegessen hast, so gut geschmeckt hat, hab ich der Köchin befohlen, eine extragroße Torte ganz allein für dich zu backen.»
«Oh, danke schön», sagte der Junge vollkommen verstört.
«Du mußt der Köchin danken, nicht mir», sagte die Knüppelkuh.
«Vielen Dank, Köchin», sagte der Junge.
Die Köchin stand wie ein zusammengeschnirrter Schnürsenkel da, Lippen fest zusammengepreßt, feindselig, mißgünstig. Sie sah so aus, als ob sie in eine Zitrone gebissen hätte.
«Also los», sagte die Knüppelkuh, «warum schneidest du dir nicht eine schöne dicke Scheibe ab und kostest die Torte erst einmal?»
«Was? Jetzt?» fragte der Junge mißtrauisch. Er wußte, daß die Sache irgendeinen Haken hatte, nur nicht wo. «Kann ich sie nicht einfach mit nach Hause nehmen?» fragte er.
«Das wäre unhöflich», antwortete die Knüppelkuh mit einem boshaften Grinsen. «Du mußt der Köchin hier doch zeigen, wie dankbar du ihr für all die Arbeit und Mühe bist, die sie auf sich genommen hat.»
Der Junge regte sich nicht.
«Also hopp jetzt, fang an», sagte die Knüppelkuh. «Schneid dir eine Scheibe ab und beiß rein. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.»
Der Junge hob das Messer auf und war schon im Begriff, in die Torte zu schneiden, als er innehielt. Er beäugte die Torte. Dann schaute er zur Knüppelkuh empor, dann zu der langen dürren Köchin mit ihrem Zitronensaftmund. Alle Kinder in der Aula sahen gespannt zu und warteten darauf, daß irgend etwas geschah. Denn das, hatten sie das Gefühl, war unvermeidlich. Die Knüppelkuh gehörte nicht zu den Menschen, die einem eine ganze Schokoladentorte aus reiner Nächstenliebe schenkten. Einige tippten darauf, daß sie mit Pfeffer oder Rizinusöl gefüllt war oder irgendeine Zutat enthielt, die so ekelerregend schmeckte, daß der Junge wie ein Reiher würde kotzen müssen. Es konnte auch Arsen sein, und dann würde er in genau zehn Sekunden tot umfallen. Oder vielleicht war es eine Scherztorte, und das ganze Ding flog in die Luft, sowie man es anschnitt, wobei Torfkopp mitgerissen würde. Alles das trauten die Schüler der Knüppelkuh zu, ohne mit der Wimper zu zucken.
«Ich möchte nichts davon essen», sagte der Junge.
«Du probierst sie, du Lauselümmel», sagte die Knüppelkuh, «du beleidigst die Köchin.»
Da begann der Junge sehr zimperlich und vorsichtig, sich eine dünne Scheibe aus der Riesentorte zu schneiden. Dann hob er die Scheibe heraus. Er legte das Messer hin und nahm das klebrige Stück in die Hand und begann es langsam zu essen.
«Lecker, nicht wahr?» fragte die Knüppelkuh.
«Sehr gut», antwortete der Junge, während er kaute und schluckte. Er aß das Stück auf.
«Nimm dir noch eins», sagte die Knüppelkuh.
«Ich hab genug, vielen Dank», murmelte der Junge.
«Ich hab gesagt, nimm dir noch eins», wiederholte die Knüppelkuh, und jetzt erklang ein sehr viel schärferer Ton in ihrer Stimme. «Iß die zweite Scheibe! Tu was man dir sagt!»
«Ich mag kein zweites Stück», sagte der Junge.
Plötzlich explodierte die Knüppelkuh. «Iß!» schrie sie und schlug sich mit der Reitgerte gegen die Schenkel. «Wenn ich dir sage, daß du essen sollst, dann wirst du essen. Du hast Torte gewollt! Du hast Torte gestohlen! Und jetzt hast du Torte gekriegt! Nicht nur das, du wirst sie auch essen. Du verläßt diese Bühne nicht, und keiner verläßt die Aula, bis du die ganze Torte aufgegessen hast, die vor dir steht. Habe ich mich deutlich ausgedrückt, Torfkopp? Hast du verstanden, was ich meine?»
Der Junge schaute die Knüppelkuh an. Dann schaute er auf die Riesentorte.
«Iß! Iß! Iß!» schrie die Knüppelkuh.
Zögernd schnitt sich der Junge ein zweites Stück ab und begann es zu essen.
Matilda war fasziniert. «Glaubst du, daß er es schafft?» flüsterte sie Lavendel zu.
«Nein», flüsterte Lavendel zurück. «Das ist unmöglich. Es wird ihm übel sein, eh er die Hälfte verputzt hat.»
Der Junge kaute weiter. Als er das zweite Stück aufgegessen hatte, zögerte er und schaute zur Knüppelkuh.
«Iß!» schrie sie. «Gierige kleine Diebe, die gerne Kuchen mögen, müssen Kuchen kriegen! Iß schneller, Junge! Iß schneller! Wir wollen hier nicht den ganzen Tag rumsitzen! Und keine Pausen so wie jetzt! Wenn du noch einmal eine Pause machst, eh du ganz und gar fertig bist, geht’s geradewegs in den Luftabschneider, und ich werde höchstpersönlich die Tür verschließen und den Schlüssel in den Brunnen werfen!»
Der Junge schnitt sich eine dritte Scheibe ab und begann sie zu verzehren. Er war damit rascher als mit den ersten beiden fertig, und sofort griff er nach dem Messer und schnitt sich die nächste Scheibe ab. Er schien auf eine merkwürdige Art und Weise zu seinem eigenen Rhythmus zu kommen.
Matilda, die wie gebannt zuschaute, erkannte an dem Jungen noch keine Anzeichen von Verzweiflung. Er schien vielmehr in dem Maße Zuversicht zu gewinnen, in dem er weitermachte.
«Er kommt gut voran», flüsterte sie Lavendel zu.
«Es wird ihm schon bald übel werden», flüsterte Lavendel zurück. «Das wird grauenhaft sein.»
Als Theo Torfkopp die erste Hälfte dieser Riesentorte verdrückt hatte, hielt er nur für ein paar Sekunden inne und holte ein paarmal tief Luft.
Schon stand die Knüppelkuh mit den Händen auf den Hüften neben ihm und schaute ihn drohend an. «Vorwärts! Weiter!» rief sie. «Aufessen!»
Plötzlich ließ der Junge einen gigantischen Rülpser fahren, der wie Donner durch die Aula rollte. Viele Schüler fingen an zu kichern.
«Ruhe!» brüllte die Knüppelkuh.
Der Junge schnitt sich abermals ein dickes Stück ab und fing an, es mit großer Geschwindigkeit zu verschlingen. Es waren ihm noch immer weder Erschöpfung noch Übelkeit anzumerken. Er sah ganz und gar nicht so aus, als müßte er abbrechen und ausrufen: «Ich kann nicht mehr, ich kann keinen einzigen Bissen mehr! Ich muß mich übergeben!» Er war immer noch im besten Schwung.
Und nun bahnte sich bei den zweihundertundfünfzig Kindern, die ihm in der Aula zuschauten, ein leiser Wandel an. Zu Beginn hatten sie ein drohendes Unheil gewittert. Sie hatten sich auf eine unerfreuliche Szene eingestellt, in der der unglückselige Junge, bis zu den Kiemen mit Schokoladentorte vollgestopft, aufgeben und um Gnade flehen müßte, und dann hätten sie zuschauen müssen, wie die triumphierende Knüppelkuh mehr und immer mehr Torte in den Mund des keuchenden Jungen stopfte.
Aber so verlief die Sache ganz und gar nicht. Theo Torfkopp hatte sich zu drei Vierteln durchgefuttert und zeigte immer noch keine Schwäche. Man hatte vielmehr das Gefühl, daß es ihm allmählich fast Spaß machte. Er mußte einen Berg erklimmen, und er war fest entschlossen, den Gipfel zu erreichen oder dabei umzukommen. Und er war sich unterdessen seiner Zuschauer sehr bewußt geworden und wie sie ihm stillschweigend alle den Daumen drückten. Dies war ja nichts anderes als ein Entscheidungskampf zwischen ihm und der mächtigen Knüppelkuh.
Plötzlich schrie einer: «Weiter, Theo! Du schaffst es!»
Die Knüppelkuh fuhr herum und heulte: «Ruhe!»
Die Zuschauer verfolgten alles wie gebannt. Der Wettkampf hatte sie gepackt. Sie sehnten sich danach, Theo anzuspornen, aber sie wagten es nicht.
«Ich glaube, er schafft es», flüsterte Matilda.
«Ich glaub’s fast auch», flüsterte Lavendel zurück. «Ich hätte nie im Leben geglaubt, daß jemand eine Torte von dieser Größe ganz allein aufessen könnte.»
«Die Knüppelkuh hat das auch nicht geglaubt», flüsterte Matilda, «schau sie doch an. Sie wird immer röter. Wenn er gewinnt, wird sie ihn erschlagen.»