Es war “Das Mitgebrachte”, das ich immer im eingerollten Innern in der Hand hielt, was mich in ihre [der Kommode] Tiefe zog. Wenn ich es mit der Faust umspannt und mich nach Kräften in dem Besitz der weichen, wollenen Masse bestätigt hatte, begann der zweite Teil des Spieles, der die Enthüllung brachte. Denn nun machte ich mich daran, “Das Mitgebrachte” aus seiner wollenen Tasche auszuwickeln. Ich zog es immer näher an mich heran, bis das Bestürzende sich ereignete: ich hatte “Das Mitgebrachte” herausgeholt, aber “Die Tasche”, in der es gelegen hatte, war nicht mehr da. [Der Strumpf, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 416—417]
Der Text führt vor, dass sich das Geheimnis des Strumpfes nicht mit einem Mal, sondern im Zuge einer serialen Bewegung entdeckt, in einem sich immer weiter verschachtelnden Raum, dessen Inneres sich in das Außen eines weiteren Inneren verwandelt. Das Eindringen in das Innere der Dinge und dessen Bloßlegung, d. h. dessen Entdeckung, verfügen als äußerlich verschiedene Handlungen über eine gemeinsame Sinnpotenz: die Erkenntnis. Das Kind findet im Strumpf, den es auswickelt, diesen selbst und die Lehre der Auswechselbarkeit von Außen und Innen. “Die Tasche”, die “Das Mitgebrachte” enthalten hatte, entpuppt sich als ihr eigener Inhalt. Und diese kindliche Lehre wendet sich in die spätere poetologische Erkenntnis, dass die Form des Kunstwerkes sein Inhalt ist , und dass daher dessen Analyse in statischen Oppositionspaaren problematisch erscheint:
Nicht oft genug konnte ich die Probe auf diesen Vorgang machen. Er lehrte mich, daß Form und Inhalt, Hülle und Verhülltes dasselbe sind. Er leitete mich an, die Wahrheit so behutsam aus der Dichtung hervorzuziehen wie die Kinderhand den Strumpf aus “Der Tasche” holte. [Der Strumpf, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 417]
Um nun die Probe aufs Exempel zu machen und Benjamins Lehre der Auswechselbarkeit von Form und Inhalt auf seinen eigenen Text der Berliner Kindheit anzuwenden: Benjamin, der sich seine Berliner Kindheit vergegenwärtigt, trägt (so wie “Die Tasche”, wie die Form) seine Vergangenheit (als “Das Mitgebrachte”, als Inhalt) in sich. Er entdeckt dieses “Mitgebrachte”, diesen Inhalt (seine Vergangenheit) in dem Sinne, dass er, als er noch Kind war, bereits die Gegenwart des Erwachsenen (als “Das Mitgebrachte”, als Inhalt) in sich trug (so wie “Die Tasche”, wie die Form). Anders gesagt: Der Benjaminsche gegenwärtige “Inhalt” erweist sich als die “Form”, die seine vergangene Kindheitserfahrung angenommen hat. Die persönliche Vergangenheit wird so zu einer Fortsetzung der Gegenwart. Das, was Benjamin auf seiner Zeitreise (von der Gegenwart) in die Vergangenheit entdeckt, sind jene Bilder, die potentiell seine späteren Gedanken in sich bargen. Auf seiner Reise (aus der Vergangenheit) in die Gegenwart entdeckt er jene Gedanken, die von Anfang an (wenn auch unsichtbar) in den frühen Bildern geborgen waren. Benjamin sucht durch die Erinnerung nicht seine Berliner Kindheit selbst dingfest zu machen, sondern die Urbilder seiner Gedanken, so wie er diese in den Bildern der Kinderzeit entdeckt. Der erinnernde Benjamin ist jenen “Bildern und Allegorien” auf der Spur, die schon in der Luft seiner Kindheit lagen und “die über meinem Denken herrschen wie die Karyatiden auf der Loggienhöhe über die Höfe des Berliner Westens” [Loggien, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 386].
* * *
Es dürfte deutlich geworden sein, dass Benjamin mit der Berliner Kindheit ein Buch schreibt, wie man es sich verschiedener von traditionellen Memoiren kaum denken könnte – dort die Chronologie der Ereignisse, hier die Entfaltung des nichtlinearen Denkens. Benjamins Interesse gilt in der Berliner Kindheit vor allem der Welt im Moment ihrer Entdeckung, es gilt jenen Bildern, die auftauchten, als die Welt dem Kind noch unbekannt war und es die ersten Schritte unternahm, um sie zu entdecken. Ein Rückblick auf Benjamins Moskau-Texte legt nahe, dass diese ungewöhnliche und alles andere als triviale Erzählstrategie der Berliner Kindheit auf Benjamins Moskau-Erfahrung zurückgeht, als er, dem die unbekannte Moskauer Welt gegenüberstand, sich in die Lage eines Kindes versetzt fand. [186]
Bei seiner Ankunft im “asiatischen” [187] Moskau 1926 trifft Benjamin auf eine Stadt, die ihm gänzlich unvertraut ist, und in die er sich allererst einleben muss. Im Bewusstsein seiner unvermeidlichen “europäischen” Befangenheit steuert Benjamin einer vorschnellen Konzeptionalisierung seiner Moskau-Erfahrung entgegen. Ihm geht es nicht um ein (“überlegenes”) konzeptionelles Verständnis, sondern um ein konkret-gegenständliches Verständnis (“dicht unter die Menschen und Dinge gemischt”) der fremden Stadt. Er braucht die Erfahrung der Nähe, die Erfahrung des körperlich-sinnlichen Kontaktes, um zu einem synästhetischen Bild von Moskau zu kommen.
Ein zentrales Verfahren Benjamins ist es dabei, sich “ins sonderbare Tempo dieser Stadt und in den Rhythmus ihrer bäurischen Bevölkerung [zu] schicken”. Diese synchrone Bewegung in und mit der Menge erfährt Benjamin nicht nur zu Fuß, wenn er sich ganz dem “Drängen und Sichwinden” der Passanten, deren “Serpentinengang” [“Moskau”, 1., GS, IV.1, 317, vgl. Moskauer Tagebuch , GS , VI, 313] überlässt, sondern auch in der Trambahn:
Beförderung in der Trambahn ist in Moskau vor allem eine taktische Erfahrung. Hier lernt der Neuling sich vielleicht am ersten ins sonderbare Tempo dieser Stadt und in den Rhythmus ihrer bäurischen Bevölkerung schicken. Auch wie einander technischer Betrieb und primitive Existenzform ganz und gar durchdringen, dies weltgeschichtliche Experiment stellt eine Trambahnfahrt im kleinen an. Die Schaffnerinnen stehen angepelzt auf ihrem Platz in der Elektrischen wie Samojedenfrauen auf dem Schlitten. Ein zähes Stoßen, Drängen, Gegenstoßen bei dem Besteigen eines meistenteils schon bis zum Bersten überfüllten Wagens geht lautlos und in aller Herzlichkeit vonstatten. (Nie habe ich bei solcher Gelegenheit ein böses Wort vernommen.) Ist man im Innern, so beginnt die Wanderung erst. Durch die vereisten Scheiben kann man nie erkennen, an welcher Stelle sich der Wagen gerade befindet. Erfährt man es, so hilft es noch nicht viel. Der Weg zum Ausgang ist durch einen Menschenkeil verrammelt. Da man nun hinten einzusteigen hat, aber vorn den Wagen verläßt, so hat man sich durch diese Masse durchzufinden. Meist spielt sich die Beförderung freilich schubweise ab; an wichtigen Stationen wird der Wagen beinahe ganz geräumt. Also ist selbst der Moskauer Verkehr zum guten Teil ein Massenphänomen. [“Moskau”, 9, GS, IV.1, 330—331, vgl. Moskauer Tagebuch , GS , VI, 389, 313]
Dank der Synchronisierung seiner Bewegung mit derjenigen der Stadt gewinnt Benjamin nicht nur eine optische, sondern vor allem eine rhythmische, “taktische”, ja taktile Erfahrung. [188] Interessanter aber (im Blick auf die Erzählstrategie der Berliner Kindheit ) ist, dass sich Benjamin auf dem einmal eingeschlagenen Weg in der Lage eines Kindes wiederfindet, sucht er sich doch in das unbekannte Moskauer Alltagsleben einzureihen und sich dessen Praxis anzueignen. Und tatsächlich macht die fremde Stadt den Reisenden in gewisser Weise zu einem Kind und “traut” ihn den Dingen erst allmählich “an”. [189] Liest man Benjamins Moskau-Texte unter diesem Blickwinkel, dann eröffnet sich eine ganze Serie von Kindheits-Assoziationen. Dass es in der ersten Woche die “Technik, sich auf Glatteis zu bewegen”, neu anzueignen gilt [“Moskau”, 1, GS, IV.1, 317, vgl. Moskauer Tagebuch , GS , VI, 298], davon ist im Essay noch ein zweites Mal die Rede: Benjamin findet sich auf dem Moskauer Glatteis buchstäblich in das “Kinderstadium” versetzt [“Moskau”, 2, GS , IV.1, 318]. Und wenn Benjamin die Moskauer Schlittenfahrten schildert, werden auch hier Kindheits-Erinnerungen explizit:
Dicht am Bürgersteig lenkt der Iswoschtschik entlang. Der Fahrgast thront nicht, sieht nicht höher hinaus als alle anderen und streift mit seinem Ärmel die Passanten. Auch dies ist für den Tastsinn eine unvergleichliche Erfahrung. Wo Europäer in geschwinder Fahrt Überlegenheit, Herrschaft über die Menge genießen, ist der Moskowiter im kleinen Schlitten dicht unter Menschen und Dinge gemischt. […] Kein Blick von oben herab: ein zärtliches, geschwindes Streifen an Steinen, Menschen und Pferden entlang. Man fühlt sich wie ein Kind, das auf dem Stühlchen durch die Wohnung rutscht. [“Moskau”, 9, GS , IV.1, 331]
Nicht von ungefähr erinnern ihn die auf der Straße Handel treibenden Frauen an Großmütter, die sich für ihre Enkel ein Mitbringsel ausgedacht haben:
Alle fünfzig Schritt stehen Weiber mit Zigaretten, Weiber mit Obst, Weiber mit Zuckerwerk. Sie haben ihren Waschkorb mit der Ware neben sich, manchmal auch einen kleinen Schlitten. Ein buntes Tuch aus Wolle schützt Äpfel oder Apfelsinen vor der Kälte, zwei Musterexemplare liegen obenauf. Daneben Zuckerfiguren, Nüsse, Bonbons. Man denkt, eine Großmutter hat vor dem Weggehen im Hause Umschau gehalten nach allem, womit sie ihre Enkel überraschen könnte. Nun bleibt sie unterwegs, um sich ein bißchen auszuruhen, an der Straße stehen. [“Moskau”, 2, GS , IV.1, 317—318, vgl. Moskauer Tagebuch , GS , VI, 299, 301]
Während das Thema Kindheit in der letzten Passage nur anklingt, präsentiert es sich in den ersten beiden Passagen explizit. Benjamin empfindet sich buchstäblich in das “Kinderstadium” versetzt. Und vielleicht ist es auch das vorweihnachtliche Moskau, mit den auf der Straße feilgebotenen Tannen, den Kerzen, dem Baumschmuck, welches Benjamin in seine kindliche Vergangenheit entrückt haben mag. [190] Man darf mit gutem Grunde annehmen, dass diese durch die MoskauErfahrung unwillkürlich aufgerufenen Kindheitsassoziationen potentiell jene Erzählstrategie bergen, welche Benjamin dann in seinem Erinnerungsbuch realisieren wird. Von der Verknüpfung der Themen Moskau und Berlin sprechen bereits die letzten Passagen des Moskauer Tagebuches , die Benjamin unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Moskau nachtrug. Laut Benjamin erlaubt die Moskau-Erfahrung einen neuen und überraschenden Blick auf Berlin:
Es ist mit dem Bilde der Stadt [Berlin] und der Menschen dasselbe wie mit dem Bilde der geistigen Zustände: die neue Optik, die man auf sie gewinnt, ist der unzweifelhafteste Ertrag eines russischen Aufenthalts. Mag man auch Rußland noch so wenig kennen lernen – was man lernt, ist Europa mit dem bewußten Wissen von dem, was sich in Rußland abspielt, zu beobachten und zu beurteilen. Das fällt dem einsichtsvollen Europäer als erstes in Rußland zu. [ Moskauer Tagebuch , GS , VI, 399] [191]
Vor dem Hintergrund der Moskauer Eindrücke und erst im Kontrast zu der fremden Stadt gewinnt die eigene Stadt, gewinnt Berlin neue Züge. Dieser Blick auf die eigene Stadt mit gleichsam fremden Augen ist für Benjamin selbst “der unzweifelhafteste Ertrag” seines Moskau-Aufenthaltes.
Zu einem weiteren Ertrag des Moskau-Aufenthaltes muss man ohne Zweifel auch die Berliner Kindheit zählen, mit der Benjamin die Erfahrung seiner Pseudo-Kindheit in Moskau aktualisiert. Die Reise in die Fremde, in der er, der Erwachsene, sich in die Lage eines Kindes versetzt fand, war Benjamin unwillkürlich zu einer Reise in die Zeit geraten. Im Laufe der Reflexion dieser positiv verbuchten Erfahrung wird Benjamin das künstlerische Verfahren jenes zweifach verfremdenden Blicks, von dem oben die Rede war, für sich neu entdecken. Und er wird dieses Verfahren für seine Erzählstrategie der Berliner Kindheit regelrecht verpflichten.
Hier, in seinem Erinnerungsbuch, verlegt Benjamin den Ort der Handlung in das Berlin seiner Kindheit. Aber um in ein solches Berlin zu geraten, bedarf es jener neuen Optik, die es erlaubt, das Gewohnte neu zu sehen oder, wie Benjamin selbst formulieren würde, “das Neue wiederzuerkennen”. Am Bestimmungsort seiner Reise in die Zeit findet er sich in weiter Ferne von der gegenwärtigen Stadt und zugleich in der Nähe jener Bilder, die sich im Laufe der kindlichen Entdeckung der Welt herausbildeten.
Primärliteratur
Benjamin Walter 1963 – Städtebilder. Nachwort von Peter Szondi. (edition suhrkamp; Bd. 17). Frankfurt am Main, 1963.
Benjamin Walter 1972—1999 – Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem. 7 Bände und Supplement. Frankfurt am Main, 1972—1999.
Benjamin Walter 1980 – Moskauer Tagebuch. Aus der Handschrift herausgegeben von Gary Smith. Mit einem Vorwort von Gershom Scholem. (edition suhrkam; Bd. 1020, Neue Folge; Bd. 20). Frankfurt am Main, 1980. [Russisch: БеньямиВ. 1997 – Московский дневник. М., 1997.]
Benjamin Walter 2000 – Berliner Kindheit um neunzehnhundert: Gießener Fassung. Hrsg. und mit einem Nachwort von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main, 2000.
Sekundärliteratur
Braese Stephan 1995 – Deutsche Blicke auf Sowjet-Rußland: die MoskauBerichte Arthur Holitschers und Walter Benjamins // Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 1995, № 24: 117—147.
Brüggemann Heinz 1989 – Fenster mit brennender Lampe in schadhafter Mauer: Räume und Augenblicke in Walter Benjamins “Berliner Kindheit um 1900” // Brüggemann, Heinz: Das andere Fenster: Einblicke in Häuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer ur-banen Wahrnehmungsform. Frankfurt am Main, 1989: 233—266.
Schlögel Karl 1998 – Moskau lesen. Die Stadt als Buch. Berlin.
Schneider Manfred 1986 – Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München.
Schöttker Detlev 2000 – Erinnern // Opitz, Michael / Wizisla, Erdmut (Hrsg.): Benjamins Begriffe. Band 1. Frankfurt am Main, 2000: 260—298.
Schütz Erhard 1993 – Die Heimat des Zögernden. Zu Walter Benjamins Berlin-Prosa // Haarmann, Hermann (Hrsg.): Berliner Profile. Berlin, 1993: 27—49.
Schütz Erhard 2004 – Benjamins Berlin. Wiedergewinnung des Entfernten // Schöttker, Detlev (Hrsg.): Schrift, Bilder, Denken. Walter Benjamin und die Künste. [Ausstellung Schrift, Bilder, Denken – Walter Benjamin und die Kunst der Gegenwart, 29. Oktober 2004–31. Januar 2005, Haus am Waldsee, Berlin]. Fankfurt am Main, 2004: 32—47.